Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Unsere Fachtagung widmet sich anlässlich des fünften Jahrestages des Kölner Beschneidungsurteils dem Thema der medizinisch nicht indizierten Jungenbeschneidung. Sie soll Ärztinnen und Ärzte zu den körperlichen und psychischen Risiken der Beschneidung informieren und wurde deshalb von der Ärztekammer Nordrhein auch als ärztlicher Weiterbildungskongress zertifiziert.
Was war geschehen? Am 4. November 2010 beschnitt ein Arzt in seiner Praxis in Köln einen damals vier¬jährigen Jungen muslimischer Eltern auf deren Wunsch. Aufgrund starker Nachblutungen stellte die Mutter den Jungen am 6. November 2010 in der Universitätsklinik Köln vor. Dort wurden die Blutungen in Vollnarkose gestillt. Es folgte ein mehrtägiger Klinikaufenthalt. Mehrere Verbandswechsel ebenfalls in Narkose schlossen sich an. Der Befund wurde wie folgt beschrieben: „die freiliegende Penisoberfläche und die Eichel seien "uneben, zerfressen und fibrinös belegt" gewesen. Zehn Tage sei der Junge in stationärer Behandlung gewesen.
Am 7. Mai 2012 beurteilte das Kölner Landgericht den Fall als strafbare Körperverletzung, auch wenn die operative Entfernung unter korrekten medizinischen Bedingungen erfolgte. Der Arzt wurde nach § 17 Satz 1 StGB freigesprochen, da er in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum und damit ohne Schuld gehandelt habe.
Daraufhin setzte in Deutschland eine auch international wahrgenommene öffentliche Debatte um die Jungenbeschneidung ein. Von Ärzteorganisationen, Menschen-, Frauen- und Kinderrechtsverbänden wurde das Urteil als Impuls für den Kinderschutz ausgelegt. Religiöse Gruppierungen sahen sich in ihren Traditionen und Glaubensbedürfnissen bedroht. Vor dem Hintergrund des historischen Zivilisationsbruches der Nazidiktatur und des Holocaust wurde gefragt, ob jüdisches Leben in Deutschland wieder zur Disposition stehe. Die Kritiker der Jungenbeschneidung sahen sich in die Nähe von Antisemitismus und Rassismus gerückt.
Diese kontrafaktische Konstruktion von Verfolgungsszenarien eskalierte den juristischen Konflikt zur religiös bestimmten Machtfrage, in die sich schließlich sogar der damalige israelische Oberrabbiner Jona Metzger einschaltete. In diesem Moment verloren Sachargumente ihre Kraft und die Beschneidungsopfer ihre Stimme.
Eine ausgewogene Wortmeldung formulierte damals der deutsch-jüdische Historiker Wolffsohn: „Nicht von der Vorhaut hängt das Judentum ab. […] das jüdische Religionsgesetz ist eindeutig: Ein unbeschnittener Jude ist Jude, sofern er Sohn einer jüdischen Mutter ist. Zwar erweckten die meisten deutschjüdischen und israelischen Debattenbeiträge den gegenteiligen Eindruck, doch Wortmeldungen ersetzen keine Wissenschaft. Dass einige politisch jüdische und rabbinische Repräsentanten den Bogen zum Holocaust schlugen …, war, bezogen auf die bewährte bundesdeutsche Demokratie, substanz- und taktlos. Dass, wie es heißt, ‚ausgerechnet Deutsche‘ sich nicht an dieser Debatte beteiligen sollten, vermag ich – so Wolffsohn - als jüdischer Deutscher nicht einzusehen“.
Unsere Bundeskanzlerin hat vor Kurzem klar gestellt, dass solche historische Vergleiche zu nichts Gutem führen.
Auch die Veranstalter, Vortragende und Betroffene, freuen sich über jüdisches Leben in Deutschland. Es liegt den Veranstaltern fern eine religiöse oder ethnische Gruppe zu diskreditieren oder zu diffamieren. Sie haben Respekt vor den religiösen und kulturellen Bedürfnissen Erwachsener.
Sie kritisieren jedoch ganz generell die nicht medizinisch bedingte Beschneidung kleiner Kinder und machen hier keinen Unterschied zwischen den Rechten von Mädchen und Jungen. Sie werben dafür, auch die Perspektive der leidvoll betroffenen Kinder einzunehmen und sehen in der Beschneidung eine Verletzung der kindlichen Unversehrtheit und sexuellen Selbstbestimmung. In der Ungleichbehandlung von Jungen erkennen sie einen Bruch in der Systematik unseres Verfassungsrechtes. Es geht ihnen darum jedes Kind im Rahmen der deutschen Rechtsordnung und der geltenden UN-Kinderschutzkonvention vor Verletzungen ihrer Intimzone zu schützen.
Es ist es verständlich, dass besonders in Teilen der jüdischen und islamischen Kultur starke Ängste bestehen, auf die Beschneidung zu verzichten.
Die religiösen Verteidiger der Beschneidung sollten heute jedoch auch akzeptieren, dass sie keine exklusive Deutungshoheit über die Beschneidung mehr haben. Argumente sind gefragt.
Denn die säkularen Kritiker der rituellen Beschneidung haben ebenfalls Angst. Sie fürchten die Beschädigung menschenrechtlicher Grundlagen und des staatlichen Gewaltmonopols durch religiöse Machtansprüche.
Die Diskussion im Vorfeld der parlamentarischen Entscheidung und im Parlament selber krankte an einer Verdrängung elementarer Fakten. Sie litt unter Nichtwissen und Nichtwissen wollen, was die erheblichen körperlichen, sexuellen und seelischen Risiken der Beschneidung angeht.
Das deutsche Parlament hat sich schließlich unter hohem Druck entschieden. Am 28. Dezember 2012 trat das neue Beschneidungsgesetzes §1631d BGB in Kraft. Dieses Gesetz erlaubt die Beschneidung von Jungen in Deutschland auch ohne medizinische Indikation unter bestimmten – oder besser – unter eher unbestimmten Bedingungen. Beispielsweise wurde die medizinische Fachkunde des Durchführenden relativiert, die Frage der Schmerbekämpfung blieb unklar und Jungen können auf Wunsch der Eltern auch aus anderen Gründen als religiösen sowie gegen ihren offensichtlichen Willen beschnitten werden.
Jahrelang war die Diskussion um die Jungenbeschneidung danach erstarrt in einem Mienenfeld aus politischem Desinteresse, passiver Ignoranz, religiösen Machtansprüchen, Gruppenzwängen und abgründiger historischer Verantwortung. Das Thema macht Angst, Politik und Medien wollten es nicht und leidvoll betroffene Jungen und Männer blieben deshalb auf der Strecke.
Immerhin wird der sexuell sensibelste Teiles des männlichen Gliedes abgeschnitten. Und die möglichen Komplikationen der Beschneidung auch unter medizinisch korrekten Bedingungen sind erheblich.
Ich nenne hier nur beispielsweise bleibende Beschädigungen und Verkürzung des Gliedes, Vernarbungen, Sensibilitätsstörungen und psychische Folgen.
Das aber ist vielen Eltern, die ihre Jungen beschneiden lassen, bis heute nicht bekannt. Sie werden auch heute häufig nicht, wie es den Regeln der ärztlichen Kunst entspräche, darüber informiert.
Aus diesen Gründen haben sich die Veranstalter entschlossen über die Risiken und Nebenwirkungen der Beschneidung aufzuklären und dabei auch die leidvoll Betroffenen selber zu Wort kommen zu lassen. Sie meldeten sich über lange Zeit aus Scham oder Loyalität nicht zu Wort. Das hat sich nun in den letzten Jahren geändert und unser Kongress ist ein Teil dieses bewusstseinsschaffenden Prozesses.
Patienten, die an den Folgen ihrer kindheitlich erlittenen Beschneidung leiden, wollen trotz der religiös und politisch bestimmten Delegitimierung des Beschneidungsdiskurses endlich mitreden. Sie wurden bei ihrer Beschneidung nicht gefragt, sie wurden zum Beschneidungsgesetz nicht gehört. Nun erhalten sie eine Stimme, an einer Universität, die - im Sinne Heinrich Heines - der Freiheit von Forschung und Lehre verpflichtet ist.
Zum Schluss noch einige kurze Anmerkungen. Die Veranstalter haben sich bemüht auch religiöse Befürworter der Beschneidung als Referenten zu gewinnen und waren dabei leider erfolglos. Unserer Referenten werden sich jedoch auf empirischer Basis mit den gängigen medizinischen Begründungsmythen auseinandersetzen und Ihnen hier einen fundierten Überblick über die Faktenlage geben. Juristische, kulturwissenschaftliche und psychoanalytische Aspekte und vor allem die Berichte Betroffener runden unsere Tagung ab.
Angesichts der bei unserem Thema immer auch mitschwingenden Emotionen möchte ich an alle Beteiligten appellieren die Gepflogenheiten des akademischen Diskurses an unserer Universität einzuhalten und in Rede und Gegenrede immer die Möglichkeit zu bedenken, dass dem Standpunkt des Anderen auch etwas Zutreffendes innewohnen könnte.
Prof. Dr. Matthias Franz